Forschungsnetzwerk Praktiken der Interpretation und Rezeption von Literatur

Praktiken der Interpretation und Rezeption von Literatur (PIRL).

Das Forschungsnetzwerk setzt sich derzeit zusammen aus:

  • Andrea Albrecht (Heidelberg)
  • Benjamin Gittel (Göttingen)
  • Ralf Klausnitzer (Berlin)
  • Olav Krämer (Freiburg)
  • Katja Mellmann (München)
  • Sandra Richter (Marbach)
  • Jørgen Sneis (Bielefeld)
  • Marcus Willand (Stuttgart)
  • Simone Winko (Göttingen)
  • Claus Zittel (Stuttgart)

Spätestens seit dem Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts verschaffen Rezeptionsästhetik, reader response criticism und in Teilen auch der entstehende Poststrukturalismus einer ebenso einfachen wie überzeugenden Idee einen nachhaltig wirkungsvollen Auftritt auf der literaturtheoretischen Bühne: Leser nehmen die Bedeutung eines Textes weder passiv auf, noch erfassen sie lediglich eine vorgängig existierende Textstruktur; vielmehr erzeugen oder konkretisieren sie die Bedeutung eines Textes erst im Prozess der Lektüre. Obwohl ein grundsätzliches Interesse am Leser und der Rezeption von Literatur in den Philologien bis heute anhält – die kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft sei hier exemplarisch genannt –, ist das Wissen über die Prozesse literarischer Bedeutungskonstituierung und ihres Wandels circa 50 Jahre nach den angesprochenen theoretischen Einsätzen begrenzter als man angesichts einer verhältnismäßig elaborierten innerdisziplinären Ausdifferenzierung in Rezeptionsästhetik, -geschichte und –forschung zunächst erwarten könnte. 

Vor diesem Hintergrund eint die Forscher des Netzwerks die Überzeugung, dass der Begriff der „Praktiken“ wie er sich im Rahmen des sogenannten practice turn eingebürgert hat, ein vielversprechendes Werkzeug ist, um die Mechanismen der Bedeutungskonstitution literarischer Texte im Spannungsfeld der drei eingeführten Felder zu beschreiben. Denn sowohl ihre Rezeption in nicht-wissenschaftlichen Kontexten als auch ihre Interpretation durch Experten scheint bis zu einem gewissen Grad regelmäßig und routiniert zu erfolgen und auf einem schwer explizierbaren Knowing-how bzw. einem impliziten Wissen (tacit knowledge) zu beruhen. Natur, historische Varianz und Wechselbeziehungen der entsprechenden Interpretations- und Rezeptionspraktiken stehen im Mittelpunkt der Arbeit der Forschergruppe.

Das Forschungsnetzwerk wird im formellen und informellen Austausch

  • die methodischen Problemen und Herausforderungen einer Untersuchung von Praktiken anhand von Textzeugen bearbeiten,
  • ausgewählte Interpretations- und Rezeptionspraktiken analysieren, um eine lediglich deutungsakkumulierende rezeptionsgeschichtliche Forschung auf eine Beschreibung von interpretive communities hin zu überschreiten,
  • untersuchen, welche Wechselwirkungen es zwischen Rezeptions- oder Lektürepraktiken in nicht-wissenschaftlichen Kontexten und den Textumgangsweisen von Experten gibt und
  • prüfen, ob und, wenn ja, wie automatisierte oder quasi-universelle Rezeptionspraktiken in einem Bottom-up-Prozess Interpretationsmethodologien fundieren können.


Das Forschungsnetzwerk ist am Stuttgart Research Centre for Text Studies sowie am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen verankert und arbeitet mit nationalen und internationalen ForscherInnen zusammen, die sich mit den oben genannten Fragen beschäftigen.

Rezeptionsästhetische Ansätze interessieren sich vornehmlich für „Appellstrukturen“ (W. Iser) im Text und postulieren mögliche, jedoch kaum je empirisch eruierte Leseraktivitäten. Rezeptionsgeschichtliche Studien sind in aller Regel an der (wissenschaftlichen) Rezeption singulärer Texte interessiert und leisten, selbst zusammengenommen, aufgrund ihrer durch Ad-hoc-Kategorisierungen erschwerten Vergleichbarkeit untereinander keinen wesentlichen Beitrag zur Epistemologie der Interpretation und Rezeption literarischer Texte. Empirische Rezeptionsforschung ist hinsichtlich ihrer Aussagenreichweite nicht auf den Einzeltext beschränkt, sieht sich jedoch dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie zwar etwas über empirische Subjekte, aber kaum etwas über literarische Texte auszusagen vermag.

Praktiken der Rezeption in nicht-wissenschaftlichen Kontexten umfassen die imaginative Ausgestaltung fiktionaler Welten, Sympathie- und Empathiesteuerung, Gattungszuordnungen, die Herstellung von Wirklichkeits- und Lebensbezügen sowie das Erkennen von singulären, besonders bedeutsamen Textstellen. Neben der Frage, inwieweit solche allgemeinen Rezeptions- oder Lektürepraktiken auch die Textumgangsweisen von Experten prägen, gilt es auch die Routinen näher zu untersuchen, die der Interpretation als wissenschaftlicher Tätigkeit mit ihrem argumentierenden und rätsellösenden Charakter eignen und die hier „Interpretationspraktiken“ genannt werden. Sie steuern so unterschiedliche Aktivitäten wie die Bestimmung zentraler Fragestellungen und Textstellen für die Interpretation, die Auswahl und den Umgang mit existierender Forschung, die Selektion und Funktionalisierung von Kontexten sowie die argumentative und rhetorische Gestaltung des Interpretationstextes.

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