Dichterlesungen

...und Vortragskunst in „avantgardistischen“ Cafés, Clubs und Cabarets des frühen 20. Jahrhunderts (Dr. Marie Wokalek)

Avantgardistische Ästhetik, literarische Programmatiken des „Neuen“, die Lautpoesie des DADA oder die Wortkunst und Bühnenästhetik im Umkreis des „STURM“-Unternehmens wirken sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf die, aus dem 19. Jahrhundert tradierten, Formen des Vortragens von Texten aus. Aber ändern sich die Rituale der Dichterlesung tatsächlich so radikal, wie es der Duktus der Manifeste vermuten lässt? In welchem Verhältnis steht die experimentelle Sprechkunst zu den Theaterreformen um 1900?

Im Rahmen dieses Projekts sollen Dichterlesung und Vortragskunst in avantgardistischen Künstlercafés, expressionistisch-dadaistischen Clubs und literarischen Cabarets der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive untersucht werden.
Aus kultur- und theaterwissenschaftlicher Perspektive liegt der Fokus auf der jeweiligen Vortragssituation und ihren ästhetischen, sozialen, räumlichen, institutionellen Kontexten. Die Analyse bleibt dabei meist angewiesen auf die überlieferten Ohren- und Augenzeugenberichte. Tonaufzeichnungen sind selten. Analysiert werden kann also nur, was einerseits intendiert war und was andererseits die Zeitgenossen davon wahrnahmen oder als mitteilungswert ansahen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Performativität und Semiotizität der Redesituation gelegt. Was erfahren wir über Stimme, Ton, Rhythmus, Sprachstil, Körper, Gestik und Mimik des Vortragenden? Welche Medien und Materialien wurden zusätzlich eingesetzt (Licht, Papier, Pult, Plakat, Musik, Geräusche, Maske, Kostüm)? Wie wird das Publikum beschrieben, sein Verhältnis zum Vortragenden geschildert? Welche Rolle spielte das Lachen?
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive liegt der Fokus auf der Beziehung von Text und Rede in den vorgetragenen Texten. Welche stimmlichen, auditiven, rhythmischen, performativen Realisationen intendieren oder provozieren diese Texte? Wie stellt sich das Verhältnis von ästhetisch-poetologischer Programmatik und Form der Texte einerseits und deren Präsentation sowie Wirkung andererseits in der historischen Vortragssituation dar? Was sagt die stimmliche Aufführung über die jeweilige Interpretation der Texte aus? Wie wird das Hörerlebnis wiederum schriftlich aufgezeichnet?

Vor dem Horizont einer historischen Anthropologie der Stimme (vgl. auch Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001) versteht sich das Projekt als Beitrag zur Neujustierung des Verhältnisses von Stimme und Schriftkultur, welches jenseits von Derridas Kritik am Phonozentrismus nicht mehr als Konkurrenzverhältnis gedacht wird. Es kooperiert eng mit dem u.a. am SRCTS entstehenden Themenportal „Herwarth Walden und DER STURM“.

Juni 2019: Vortrag im Rahmen der internationalen Forschungswerkstatt „Komik in der Krise: subversive Sprach- und Sprechformen der zwanziger Jahre“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach: „›Leicht anjeheisert‹ mit einem ›Bibber‹ in der Stimme“ – Überlegungen zur performativen Komik in Paul Graetz’ Vortragsstil“

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